Kriegskinder – Kriegsenkel: Die langen Schatten des Krieges

Große Resonanz auf Fachtagung
„Weil das unverarbeitete Leid der Kriegskinder noch heute in vielen Familien Spuren zeigt…..“ in Lübeck

Am 25. März 2011 trafen sich in Lübeck an die 260 Fachleute und fachlich interessierte Menschen zur Tagung:
„Kriegskinder – Kriegsenkel: Die langen Schatten des Krieges“: Wie das unverarbeitete Leid der Kriegskinder noch heute in vielen Familien Spuren zeigt.
Eingeladen hatte der Förderverein der TelefonSeelsorge Lübeck – im Rahmen des 50jährigen Jubiläums der TelefonSeelsorge Lübeck. Die Tagung traf in der Fachöffentlichkeit auf große Resonanz. Angemeldet hatten sich weit über 300 Personen, von denen leider nicht alle berücksichtigt werden konnten. „Wir sind total überrascht. Mit einem derart starken Zuspruch wollte keiner von uns rechnen“, freut sich noch heute Pastorin Marion Böhrk-Martin, Leiterin der Telefonseelsorge Lübeck und Geschäftsführerin des Fördervereins. Offensichtlich hat sich hier mal wieder ein Thema sein Forum gesucht und nicht umgekehrt. Lübeck wurde nach dem bitteren Ende des Krieges zur Zufluchtstätte tausender Flüchtlinge. Die Einwohnerzahl schoss sprunghaft in die Höhe von 150.000 (1939) auf 235.000 (1946). Die Lübecker TelefonSeelsorge begleitet sowohl Kriegskinder als auch Kriegsenkel schon seit Jahrzehnten am Telefon.
Neben den ehrenamtlich Mitarbeitenden der TelefonSeelsorge kamen zahlreich Psychotherapeuten, Ärzte, medizinisches Personal, Fachkräfte aus Pflegeeinrichtungen sowie am Thema Interessierte aus Lübeck, Ost- und Südholstein, sogar aus Litauen kam eine Anmeldung. Sie alle lauschten den zwei einstündigen Referaten mucksmäuschenstill und wollten nach einer kurzen Pause unbedingt hören, welche Fragen und Antworten ein hochkarätig besetztes Podium nun erörtern werde. Wie haben die Jahrgänge 1933 – 1945 den Krieg verkraftet, Flucht, Vertreibung, Bombardierungen, Hunger und Krankheit, fehlende Väter und depressive Mütter? Sind die Beziehungsstörungen zu ihren Kindern, den „Kriegsenkeln“, aber auch Schlafstörungen, Migräne, Depressionen und Angstzustände im Alter zurückzuführen auf verdrängte Kindheitserfahrungen- und erinnerungen? Heute weiss man, dass Traumata von einer Generation auf die nächste übertragen werden können. Lange war dies nur von den Opfern der Shoa bekannt, jetzt wird es auch bei vielen anderen Opfern eines Krieges beobachtet und erforscht. Ziel der Tagung war es, Kriegskinder und Kriegsenkel besser verstehen zu können und ein differenzierteres Verständnis ihrer besonderen Beziehungsdynamik zu erhalten – Ansätze zur Versöhnung zu finden. Trauern um die jeweils eigenen Verluste wäre notwendig. Denn unbearbeitet – weiß schon die Bibel – können seelische Verletzungen weitergegeben werden „bis ins dritte und vierte Glied“.

Prof. Dr. Michael Ermann aus München arbeitet an einer groß angelegten Studie über die Traumata, die vielen der sogenannten Kriegskinder in den letzten Jahren zu schaffen machen. In seinem Vortrag knüpfte er an eigene Erlebnisse als Zeitzeuge an und schilderte sein Leben mit den Traumata.
Heute werden vor allem die Jahrgänge 1933 bis 1945 als die Generation der Kriegskinder bezeichnet. So konnte Professor Ermann in einer systematischen Befragung nachweisen, dass sich in dieser Kerngruppe der Kriegskinder Ängste, Depressionen und andere typische Merkmale von Traumata häufen. „Wenn jemand als Kleinstkind ständig im Luftschutzkeller hocken musste, umgeben von herunterstürzenden Balken, wenn jemand durch brennende Städte getragen wurde, dann erzeugt das Erregungszustände, an die man sich zwar nicht mehr bewusst erinnert, der Körper vergisst sie aber nicht. Wir nennen das Körpererinnerung.“
Ermann fesselte das Auditorium, zumal er selbst nach seiner Flucht aus Pommern auch an die Stadt an der Trave kam. Er selbst musste auch erst knapp sechzig Jahre alt werden, um sich mit persönlichen Bedrängnissen der Kriegs- und Nachkriegszeit intensiver zu befassen, weil er kein eigenes Gefühl zu diesen Jahren spürte. Dieser sein blinder Fleck war das Resultat von Verdrängung, wie er heute zu wissen glaube.
Die schrecklichen Kriegserfahrungen – da war für Trauer kein Sinn. Das nackte Leben forderte sein Recht. All das brauchte Jahre, um sich dann Schritt für Schritt zur Mitte der 50er Jahre in ein beginnendes Wirtschaftswunder von Sicherheit und Wohlstand zu wandeln. Normalität kehrte ein. Leid, Schuld, Trauer, Verantwortung wurde klein geschrieben und erst in der Ära nach Adenauer kulturell geordnet und rational zum Thema gemacht. Überleben und aufbauen – das war wichtig. Erfolg im Beruf und Glück in der Familie waren wichtige Stützen, um unbewältigtes Leid zu kompensieren.
Neben den unmittelbaren Schrecknissen des Krieges, der überall in Europa Zivilisten und Soldaten leiden ließ, waren es in erster Linie Kinder und Heranwachsende, die damals direkte Ansprache und Erklärung benötigt hätten, um traumatische Ereignisse gesund bewältigen zu können. In vielen Fällen war das jedoch oft unmöglich, waren die Eltern doch selbst autoritär sozialisiert worden. Ein deutscher Junge weint nicht; was uns nicht tötet, macht uns noch härter; falle anderen nicht zur Last; habe deine Gefühle im Griff, sonst beherrschen sie dich – typische Maximen wie diese waren allgemein anerkannt. Sie sollten helfen, den Einzelnen im Überlebenskampf zu stärken. Persönliches Leid gesellschaftlich denunziert als Wehleidigkeit. Diese galt als Schwäche und als mögliche Schwächung der Gemeinschaft, die insgesamt zu beweisen hatte, im generellen Daseinskampf der Völker zu siegen. Härte gegen sich und andere war auch zum Gutteil die Folge sozialdarwinistischer Ideen, die bis heute als eine schwere ideengeschichtliche Last des 19. Jahrhunderts psychosomatische Erkrankungen begünstigten. Das christliche und humanistische Gebot der Selbst- und Nächstenliebe konnte weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart obsiegen.

Verdrängtes Leid wirkt generationenübergreifend. Wer geschlagen wird, schlägt auch gegen sich selbst und die eigenen Kinder wider besseres Wollen zurück. Die Kölner Autorin Sabine Bode erläuterte in ihrem Referat zu den „Kriegsenkeln“ an zahlreichen Beispielen, wie bestimmte Partnerschafts- oder Erziehungsprobleme über Jahrzehnte Ehen und Familien beschweren können, bevor den Beteiligten verständlich wird, dass sich dahinter besondere Kriegs- und Nachkriegserlebnisse verbergen. Die Kriegsenkel seien oft verstrickt in ihre Familiengeschichten. Selbst Flucht ins Ausland hülfe nicht, sich emotional abzunabeln. Kriegsenkel seien betroffen von Existenzangst, Identitätsverwirrungen, Bindungsproblemen und könnten zuweilen kaum Gefühle zeigen. Sie klagen über die emotionale Sprachlosigkeit ihrer Eltern, dass diese keine Ahnung hätten, was in ihnen, den Kindern, eigentlich vorginge. Die Eltern würden auch nie danach fragen. Und sie sind bedrückt über das Schweigen der Eltern. Doch zeigen zum Beispiel Kriegsvergewaltigungen oft verheerende Folgewirkungen. Die Not der vergewaltigten Mutter überträgt sich auf ihre Töchter. Oder Väter, heimgekehrt von der Front oder aus der Gefangenschaft, trugen eigene psychische Deformationen in ihre Familien und schufen so ungewollt dauerhaft eine ständige Atmosphäre gespielten Lebens in ihren Familien, weil sie sich als Versager selbst glaubten anklagen zu müssen.

Wie können die Kriegskinder und ihre Kinder, die Kriegsenkel einander besser verstehen?
Dafür, miteinander ins Gespräch zu kommen, miteinander zu trauern um das, was man nicht bekommen hat, sei es nie zu spät, meinte Prof. Ermann in der anschließenden Podiumsdiskussion. Manchmal könnten allerdings erst Prozesse der Selbsterkennntis Heilung bringen. Existenzielle Not sei für den Betroffenen am ehesten zu bewältigen, wenn sie in Gemeinschaft geteilt wird, frei nach dem Motto: Geteiltes Leid ist halbes Leid. Für die Kriegskindergeneration sei wichtig, mit sich selber sowie mit den eigenen Kindern freundlicher und nachsichtiger umgehen zu lernen. Oft gelänge es den kleinen Enkeln der Kriegsgeneration mit ihren unbefangenen Fragen besser als den Eltern, diese über ihre Kriegserfahrungen ins Reden zu bekommen.
Komplizierte und wirkungsmächtige neurophysiologische Abläufe und Vereinsamung führten im Alter dazu, dass die Kriegskinder unter vielen psychosomatischen Beschwerden zu leiden begännen, auch lange verdrängte Kriegserinnerungen wieder hochkämen. Ermann betonte, dass die Traumata der Kriegskinder vor allem dann von besonderer Tragweite seien, wenn der Patient Leid erfahren musste von jenen, von denen er Schutz und Geborgenheit hatte erwarten dürfen bzw. müssen. Versagten diese jeweiligen Bezugspersonen Mitgefühl oder wären sie sogar als Täter aufgetreten, dann sei die subjektiv erlebte Verletzung besonders intensiv und umso schwerer zu bewältigen. Körper erinnern sich und melden diffuse Gefühle innerer Leere oder das Unbehagen, nicht das eigene Leben zu leben. Selbstzweifel, Sprachlosigkeit, Schuldgefühle, Rollenbrechungen, Selbstdisziplinierungen – all das wirke in den Kriegskindern nach.
Das müsse heute in Familien, Altenheimen und Hospizen deutlicher wahrgenommen werden und sei eine bedeutsame Herausforderung für all jene, die diesen Phänomenen nur allzu oft hilflos gegenüber stehen. Aktiv hin- und zuhören sei ein erster wichtiger Schritt, Hilfe geben zu können. Sich des Themas insgesamt anzunehmen, der zweite. Die eigene Sensibilität müsse zunächst gesteigert werden, um heilende Worte oder andere Zuwendungen finden zu können.
Dieser Weg wird umso erfolgreicher zu gehen sein, je mehr es gelingt, die Nöte der Kriegskinder und Kriegsenkel als gemeinsames gesellschaftliches Erbe anzunehmen. Pastor Ulrich Hentschel verwies zu Recht darauf, dass es seit den sechziger Jahren sehr erfolgreich gelungen ist, autoritäre Muster und tabuisierende Formeln im gesellschaftlichen Diskurs zu durchbrechen. Glücklicherweise haben es gesellschaftliche Bewegungen (Studenten, Frauen, Frieden, Ökologie) in den letzten fünfzig Jahren immer wieder geschafft, neue Bewertungen historischer Realitäten und sozialpsychologischer Realitäten aus dem Elfenbeinturm verschiedener Fachwissenschaften populär zu machen.
Erkenntnisgewinn ist das eine. Diesen gesellschaftlich als Bildung kulturell Wurzeln schlagen zu lassen, das andere. Der Förderverein der Telefonseelsorge Lübeck e.V. hat mit dieser Fachtagung in diesem ständigen Prozess sozialer Selbstreflexion einen wichtigen Beitrag geleistet. Viele TeilnehmerInnen äußerten den Wunsch nach einer weiteren Tagung dieser Art, beziehungsweise Interesse, weitere Angebote, Tagungen, Fortbildungen zu diesem Thema zu nutzen. Pröpstin Petra Kallies meinte, ihr sei aufgegangen, dass Kirche den rechtsradikalen Aufmärschen nicht nur Gegendemos und moralische Appelle entgegensetzen dürfe, sondern zu eigenen Formen positiven Opfergedenkens finden müsse – sie denke nun unter anderem über die Einführung von Gedenkveranstaltungen oder Trauergottesdiensten für Kriegskindern und Kriegsenkel nach.

Die Referenten:

  • Prof. Dr. med. Michael Ermann, Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie der Ludwig-Maximilians Universität München
  • Sabine Bode, Autorin und freie Journalistin aus Köln
    Das Podium:
    Pröpstin Petra Kallies
  • Pastorin Marion Böhrk-Martin, Leiterin TS Lübeck
  • Pastor Ulrich Henschel, Studienleiter Erinnerungskultur Evangelische Akademie der Nordelbischen Kirche
  • Moderiert wurde die Podiumsdiskussion von Dr. phil. Valerija Sipos, leitende Psychologin Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des UKSH Lübeck.