Jubiläumsgottesdienst 50 Jahre TelefonSeelsorge Lübeck am 10. April 2011

Predigtgedanken von Marion Böhrk-Martin zu: „Hab ich dein Ohr nur, find ich schon mein Wort.“

Noch bevor ein Mensch sehen kann, kann er hören. Viereinhalb Monate nach der Befruchtung ist unser Hörorgan fertig ausgebildet. Schon im Mutterleib hört der Embryo. Und das Hören ist der Sinn, der bei der Mehrzahl der Sterbenden als letzter erlischt.
Dem Hören ist man ausgesetzt. Ohren kann man nicht einfach schließen. Bewusstes Zuhören jedoch erfordert aufmerksame Aktivität und Konzentration. Ein Mensch muss sich bewusst empfänglich machen für andere. Wenn jemand sagt: „Hör mir mal zu!“ ist weit mehr gemeint als ein physikalischer Vorgang des Empfangens von Schallwellen. Dahinter steht etwas wie „Bitte versteh mich doch, nimm mich wahr!“

Der besondere Auftrag der TS besteht darin, in dieser verstehenden Weise zuzuhören, denen, die Gehör finden und doch anonym bleiben wollen. Oftmals kennen die Anrufenden in ihrem Umfeld nur zu gut den Schmerz, nicht gehört zu werden. Mit diesem verletzten Ohr wenden sie sich an die TelefonSeelsorge. Sie wählen den Zeitpunkt ihres Anrufs selbst und sind somit vielfach bereit, sich durch ein hörendes Gegenüber verwandeln zu lassen.
Als die TS eingerichtet wurde, ging es darum, mit neuen Mitteln Ernst zu machen mit dem Auftrag, der sich aus Schöpfungsglauben und Taufverständnis ableitet: die einzelnen wahrzunehmen. Echtes zuhören ermöglicht Begegnung. Es tut dem anderen gut, weckt den Wunsch, zu sprechen, sich als Person spürbar zu machen. Der Namensteil „Seelsorge“ sorgt mit dafür, dass sich in unserer Bevölkerung inmitten und auch neben der Gruppe derer, die zur Psychotherapie Zutrauen gefunden haben, solche hervorwagen, die bei der Seelsorge zumindest eine religiöse Grundierung der Gespräche erwarten. Seelsorge im Firmenschild enthält nämlich die Botschaft, dass die Anrufenden eine Seele haben – und spricht den Anspruch darauf zu, dass sich jemand um die Seele sorgt.
So hört die TS im besonderen Auftrag der Kirche das Un-Erhörte, das, was andere schnell überhören, etwa den Wunsch zu sterben. Jüdisch-christlich betrachtet kann die TelefonSeelsorge Ausdruck des hörenden Beziehungsangebotes Gottes sein. Die Bibel bezeugt auf vielfältige Weise, dass Gott hört. Ein Beispiel von vielen findet sich in Gen 16: Die von Abraham schwangere verzweifelte Hagar flüchtet vor Sara in die Wüste. Dort begegnet ihr ein Bote Gottes. In ihm findet Hagar jemanden, der sich für ihr Geschick interessiert, der sie hören will. Und er kündigt ihr die Geburt ihres Sohnes an, den sie Ismael nennen soll. Das heißt übersetzt: Gott hört! Gottes rettendes Hören gilt also gerade für Unterdrückte und Ausgestoßene, für Menschen, die schwierige Wüstenzeiten erleben.

Was brauchen Seelsorgerinnen und Seelsorger am Telefon, um gut zuhören zu können? Die wichtigste Grundhaltung bringen sie mit: das ist Neugierde, das Interesse am anderen. Das klingt zwar trivial, ist es aber nicht. Gerade bei Menschen, die wir gut kennen, erlischt oft unser Interesse. Wir erwarten nichts Neues mehr von ihm.
Für zwei weitere Grundbedingungen sorgt die TelefonSeelsorge selbst: Zeit und Präsens. Beides wird ja in unserem Alltagsleben immer knapper. Doch wenn der Seelsorger seine Schicht am Telefon beginnt, betritt er einen anderen Raum. Er streift seine Alltagsgeschichten ab. Er richtet sich ein. Er ist ganz da.
– Eine Schwierigkeit bleibt natürlich das Telefon. Anrufer und Seelsorger können sich nicht sehen, sie sehen nicht die Augen, sie sehen nicht die Mimik. Viele Informationen fehlen damit. Auch sind beide nicht in einem Raum, sie sind isolierter. Das macht ein Telefongespräch auch unverbindlicher. Auf der anderen Seite hilft die Konzentration auf das Hören, wirklich ganz Ohr zu sein.

Seelsorgerinnen und Seelsorger müssen eines wissen, um gut zuhören zu können: Am Telefon wird jedes akustische Signal zu einer Botschaft. Alles, was ich höre und aufnehme, beeinflusst das Gespräch.
Was höre ich am Telefon? Weinen, Seufzen, Stöhnen, – Tonfall, Lautstärke, Sprechgeschwindigkeit, Hintergrundgeräusche: Radio, Fernsehen, Türenschlagen, Straßenlärm:
All das gibt mir Informationen über die Welt, aus der da angerufen wird. Wir Seelsorger müssen nach Bildern suchen, zu denen die Stimme am anderen Ende der Leitung passt – und das Alter schätzen. Der Anrufende und ich: Wir können uns zunächst nur ein Bild voneinander machen. Das führt zunächst zu Unsicherheit auf beiden Seiten: Hört er, hört sie wirklich zu? Hat er, hat sie Interesse an mir? Ist er, sie nicht abgelenkt? Macht er, sie gleichzeitig noch etwas anderes?
Was machen wir Seelsorger, um diese Unsicherheit zu überwinden? Wie der Arzt mit dem Stethoskop neigen wir dem Anrufenden nun sein Ohr zu. Wir horchen auf dessen Herz.
„Hab ich dein Ohr nur, find ich schon mein Wort“, hat der Philosoph Karl Kraus gesagt und damit treffsicher formuliert, dass echtes Zuhören eine scheinbar passive und sozusagen einsaugende Wirkung hat. Dieser Akt des Seinlassens ist ein ungewohnter Zustand für Mitglieder einer Aktivitätsgesellschaft, in der Nichtstun eigentlich als strafbar gilt und in der jede Warteschleife durch Geräusche überbrückt wird.
Doch die Seelsorgerinnen und Seelsorger am Telefon haben gelernt, wie kostbar Worte sind – und sie haben Vertrauen in die Möglichkeiten des Anrufers, diese selber zu finden. Sie versuchen herauszuhören, was der Anrufer mit seiner Stimme sagen will, was zwischen den Zeilen gemeint sein könnte. Und das hilft diesem, seine oft diffuse Befindlichkeit, die ihm so schwer auf der Seele liegt, in Worte zu fassen. Viele Notleidenden wissen nämlich nicht, was ihnen eigentlich fehlt. Sie wissen nur, d a s s Ihnen etwas fehlt.
Mich erinnert dieser Zustand oft an meine Kinder, als sie noch klein waren und ihre Trauer, ihren Kummer oder ihre Enttäuschung oft nicht anders zeigen konnten als durch Weinen, Schreien oder Toben. Dann fingen sie an zu begreifen, dass es Worte gibt für die Welt in ihrem Inneren. Sie lernten zu sagen, was in Ihnen vorging: ich bin traurig, ich bin wütend, ich bin enttäuscht. Und eines Tages dann kam der Augenblick, in dem sie das erste Mal versuchten, zu erklären, warum sie traurig, oder enttäuscht sind – holpernd zunächst, nach jedem Wort suchend, im Blick ein Staunen darüber, dass es so etwas gibt: man kann erklären, mit Worten eine Brücke bauen zu dem, der bereit ist, zuzuhören, und plötzlich ist man nicht mehr allein. – Das erste echte Gespräch mit meinen kleinen Kindern: ein noch viel größeres Wunder als die ersten Schritte.
Wenn sie fertig waren mit Erzählen, habe ich noch eine Weile geschwiegen, gerührt von dem, was gerade passiert war: jemand schenkt mit sein Innerstes.
Und wenn es mir nicht gelungen war, in Eile, ihre ersten zaghaften Gefühlsäußerungen nicht zu erdrücken mit meiner mächtigen Erwachsensprache, dann tat es mir jedes mal unendlich leid.
„Hab ich dein Ohr nur, find ich schon mein Wort“ – das sagt natürlich keiner unserer Anrufer zu uns. Dieser Satz entspricht aber der zuversichtlichen Haltung, in die er unversehens gerät, wenn der Seelsorger am Telefon wirklich zuhört. Er vertraut darauf: Der Seelsorger am Telefon wird mich nicht verurteilen. Und er wird spüren: ich werde als Befähigter geglaubt, als Experte meines eigenen Lebens. Und es kann sein, er wird bestärkt im Glauben an sich selbst und an den tragenden Grund seines Lebens.
Wir werden jetzt gleich ein Lied hören, das dieses Geschehen sehr anrührend beschreibt. Es stammt aus dem Kinofilm „Wie im Himmel“, gedreht von dem Regisseur Kay Pollak.
Der Chorleiter Daniel hat die Gabe zu hören. Ihm gelingt es, so fein und genau wie mit einem Stethoskop, den je eigenen Ton jedes seiner Chormitglieder herauszuhören.
Für Gabriella, die von ihrem eifersüchtigen Ehemann oft brutal geschlagen wird, schreibt er ein Lied, ganz auf ihre Stimme, ganz auf ihre Persönlichkeit bezogen. Und nach einigem Zaudern traut sie sich tatsächlich, es zu singen. Und indem sie es singt, findet sie nicht nur ihre Worte, sondern auch zu neuem Selbstbewusstsein. Sie macht sich auf den Weg, den Himmel zu finden, den sie noch sucht.
Für mich ist dieses Lied ein Magnificat unserer Zeit.
Wir hören es jetzt – den deutschen Text können Sie mitlesen.

Gabriellas song:
Jetzt gehört mein Leben mir
meine Zeit auf Erden ist so kurz
meine Sehnsucht bringt mich hierher
was mir fehlte und was ich bekam.

Es ist der Weg, den ich wählte
mein Vertrauen liegt unter meinen Worten
er hat mir ein kleines Stück gezeigt
vom Himmel, den ich noch nicht fand.

Ich will spüren, dass ich lebe
jeden Tag, den ich hab`
ich will leben, wie ich es will…
ich will spüren, dass ich lebe
wissen, es war genug!!!

Ich habe mein Selbst nie verloren
ich habe es nur schlummern lassen
vielleicht hatte ich nie eine Wahl
nur den Willen zu leben….

Ich will nur glücklich sein
dass ich bin, wie ich bin
stark und frei sein….
sehen, wie die Nacht zum Tag wird….

Ich bin hier….
und mein Leben gehört mir….
und den Himmel, den ich suchte….
den find` ich irgendwo…

Ich will spüren….
dass ich mein Leben gelebt habe!!