Psychische Erkrankungen im Gespräch am Telefon.
Wie kommt es, dass manche Menschen an ihren schweren Beeinträchtigungen ihr Leben lang leiden, während andere sie überwinden können, ja an ihnen regelrecht wachsen? Unsere Vielfachanrufer zum Beispiel gehören in großer Zahl zur Kriegskinder-Generation. 40% aller Anrufe bei der TelefonSeelsorge werden von ihnen getätigt. Diese Menschen kommen über Jammern und Klagen über ihr Leben selten hinaus. Wir stellen große Unterschiede in Bezug auf Dialogfähigkeit und Verbindlichkeit fest. Ihre oft ansprüchliche und uneinfühlsame Art der Beziehungsgestaltung hat das angestammt soziale Umfeld überfordert, es sind kaum mehr tragfähige Kontakte da. Wir sind für sie sozusagen eine Ersatzfamilie geworden. Die Tatsache, dass in der TelefonSeelsorge alle vier Stunden Schichtwechsel ist, erweist sich für diese psychisch erkrankten Menschen als wahrer Segen. Doch würde aus Segen Fluch werden, würden wir dem oft grenzenlosen Bedürfnis nach „gesehen und gehört werden“ nicht auch Grenzen setzen. Die sowieso spärlichen face-to-face-Kontakte dieser Menschen würden ganz verkümmern.
Warum sind diese Menschen psychisch krank geworden über ihren Beeinträchtigungen? Die psychologische Forschung würde sagen, sie haben keine Resilienz entwickeln können. Resilienz ist die Fähigkeit, erfolgreich mit belastenden Situationen umgehen zu können. Die entscheidende Basis für die Entstehung einer solchen liegt in einer schützenden, wertschätzenden Erwachsenen-Kind-Interaktion. Wenn ich mit einem unserer Vielfachanrufer spreche, fällt mir als Theologin oft ein: es fehlte ihm der Segen einer „guten Mutter“.
Segnen (von gr. eulogeo) bedeutet „etwas Gutes sagen/wünschen“ und „zu signieren“ (von lt. signare), dass wir im Leben des Gesegneten da sein wollen.
Unsere Vielfachanrufer haben sehr wahrscheinlich keinen mütterlich-schützenden Menschen gehabt, der sich ihm als Kind zuneigt hat, Zeit für es hatte, ihm Gutes gesagt hat und ihm zeigte: du bist der Glanz in meinem Auge. Ich bin für dich da.
Wenn die Seelsorgenden mit unseren Vielfachanrufern ins Gespräch kommen, nehmen sie „mütterlich“ das, was an Sorgen und Ängsten, an Wut und Unleidlichkeit von diesen Menschen nicht ausgehalten werden kann, in sich auf. Sie „entgiften“ hässliche Gedanken und Worte. Sie geben Halt. Das macht die Stunden danach für den Anrufenden wieder erträglicher. Über die Jahre gelingt es zuweilen, eine Beziehung aufzubauen. Dann kommt uns dieser Mensch wie ein alter Bekannter vor, mit dem wir gern ein Gespräch führen und auch mal scherzen.