Jahresthema 2016: „EINSAMKEIT“.

Gemeinsam gegen Einsamkeit
TelefonSeelsorge Lübeck setzt mit Jahresthemen öffentliche Statements
LÜBECK. Etwas mehr als eine Million Menschen leben im Einzugsgebiet der TelefonSeelsorge Lübeck. Von Fehmarn bis vor die Tore Hamburgs erstreckt es sich. Irgendwo mitten in der Lübecker Altstadt sitzen Menschen Tag und Nacht am Telefon und nehmen ab, wenn es klingelt. 60 bis 80 Mal am Tag. Die Anrufer haben vielfältige Gründe – Trauer, Arbeitslosigkeit, Sucht oder Liebeskummer: Die Ehrenamtlichen haben für alles ein offenes Ohr. Sie hören aber nicht nur gut zu, sie schreiben auch auf. Etwa 25000 Mini-Protokolle allein im Jahr 2015 haben sie erstellt und ausgewertet.

Wenn aus Zahlen Themen werden
Bereits zum dritten Mal hat sich durch diese Zahlen für die Lübecker TelefonSeelsorge ein Thema geradezu aufgedrängt.
2011 standen die „Kriegskinder – Kriegsenkel: die langen Schatten des Krieges“ im Mittelpunkt. Das Interesse war riesig. Die TelefonSeelsorge Lübeck ließ das Thema nicht los – Lübeck war nach dem Krieg Zufluchtsstätte von rund 80000 Flüchtlingen.
2013 hieß das Jahresthema „Bruchstücke – Kindsein im zweiten Weltkrieg“. Über zwei Wochen gab es in der Briefkapelle der Lübecker Marienkirche die Möglichkeit zum Gespräch. Die Menschen waren aufgerufen, Gegenstände ihrer Kindheit mitzubringen und zu erzählen. Und sie kamen, mit einem Foto in der Tasche oder dem alten Teddy im Arm. Die Menschen erzählten von Flucht und Vertreibung, von Angst und Schweigen aber auch vom Ankommen und Durchatmen. Die Ehrenamtlichen der TelefonSeelsorge hörten zu. Ein Fotoprojekt fügte die persönlichen Bruchstücke in einer Ausstellung zu einem Mosaik zusammen. Die Stadt kam ins Gespräch, die Kriegskinder hatten endlich die Gelegenheit, zu erzählen.
2016 nun steht die „Einsamkeit“ über dem Jahr.
Es ist mehr, als einfach nur allein zu sein. Es ist ein Gefühl, tief im Inneren: leer, irgendwie unfertig – einsam. Dieses schmerzhafte Gefühl macht sich bei immer mehr Menschen breit. Das beobachtet die Lübecker Telefonseelsorge seit einigen Jahren.
2015 nannten 14 Prozent der Anrufer Einsamkeit als Grund für den Griff zum Hörer. „Doch das Thema schwingt bei vielen Gesprächen im Hintergrund mit“, weiß Pastorin Marion Böhrk Martin. Sie leitet die Telefonseelsorge Lübeck. Offenbar gibt es eine gesellschaftliche Entwicklung, die einsames Leben geradezu fördert.

Wenn viele Gründe ein Thema werden
Die Zahl der Einzelhaushalte hat sich in den letzten 50 Jahren mehr als verdoppelt. In der Hansestadt sind über die Hälfte alles Wohnungen Single-Haushalte.
Bei Arbeitslosigkeit oder Jobwechsel gehen soziale Beziehungen schnell verloren. Denn sie beschränken sich häufig nur auf das enge Berufsumfeld. Dauerhafte Beziehungen entwickeln sich erst über einen langen Zeitraum. Das ist nur schwer möglich, wenn der Berufsort häufig gewechselt werden muss.
Jugendliche erleben eine sich wandelnde Lebenswirklichkeit: Das Netzwerk aus familiärer oder schulischer Betreuung bekommt immer weitere Maschen. Können sie in Ausbildung und Arbeit nicht Fuß fassen, kommt es oft zu Tag- und Nachtumkehr. Einsamkeit und Frust nehmen zu, der Kontakt zur unmittelbaren Umwelt geht verloren. Die Nutzung virtueller soziale Plattformen verstärkt diese Entwicklung.

Wenn aus Themen Veranstaltungen werden
Drei große Veranstaltungen organisiert die Telefonseelsorge Lübeck in diesem Jahr. Ganz unterschiedliche Zielgruppen hat sie dabei im Blick. Zwar ist Einsamkeit an sich keine Krankheit. „Aber dieses Gefühl ist ein guter Nährboden für psychische Erkrankungen“, so Böhrk-Martin. Außerdem stelle Einsamkeit einen gesellschaftlichen Makel dar. „Niemand würde sagen: Ich bin einsam.“ Vielmehr spreche man davon, Single zu sein oder allein zu leben. Das ist sozial akzeptiert.
Mit der Diplompsychologin Dr. phil. Eva Wlodarek hatte die Telefonseelsorge im Frühjahr eine bekannte Autorin von Ratgeberbüchern nach Lübeck geholt. „Einsam. Vom mutigen Umgang mit einem schmerzhaften Gefühl“ ist ein Bestseller. Der Vortrag war informativ und unterhaltsam, bot Hilfe zur Selbsthilfe in akut einsamen Situationen. Die Resonanz war groß. Ein zweiter Termin musste her, der ebenfalls voll besetzt war.

„Houston!“ (mit Ulrich Tukur in  der Hauptrolle: Das Herz ist ein einsamer Headhunter; Musik Michael Rother, Urmitglied der Krautrockband “Neu“!) heißt ein Film zum Thema Einsamkeit im Kommunalen Kino Lübeck. Am 9. November 18.30 Uhr  wird er in Kooperation mit Der TelefonSeelsorge gezeigt, im Anschluss gibt es die Möglichkeit, mit der Psychotherapeutin Dr. Hanna Petersen ins Gespräch zu kommen.

Wenn aus Veranstaltungen Diskurs wird
Am 12. November 2016 findet das „Lübecker Symposion gegen Einsamkeit“ statt. Die Telefonseelsorge Lübeck spricht hier gezielt ein Fachpublikum und fachlich interessierte Menschen an. Das Symposion stellt den Kampf gegen die Einsamkeit als dringliches Anliegen der Gesellschaft in seinen Mittelpunkt und will das Thema stärker ins Bewusstsein rufen. Namhafte Fachleute werden Impulsvorträge halten. Mit dabei sind zum Beispiel der Theologe Prof. Dr. theol. Fulbert Steffensky und Prof. Dr. Klaus Junghanns, Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am UKSH Lübeck. Im Anschluss wird es Gelegenheit zur Problemdarstellung und Diskussion geben.

Dann ist man nicht mehr allein
Ursprünglich sollten die Jahresthemen zur vertiefenden Fortbildung der Telefonseelsorgenden sein. Daraus haben sich jedoch Statements gegenüber der Öffentlichkeit entwickelt, die auf großes Interesse stoßen. Das wichtigste jedoch ist: Hinter den Zahlen und Themen der TelefonSeelsorge Lübeck stehen Menschen, die im öffentlichen Diskurs keine Stimme haben. Ihre Sorgen und Nöte machen sie mit sich allein aus. Das Jahresthema aber zeigt ihnen, dass sie nicht allein sind. Hilfe ist erreichbar – 0800/1110222