Rückblick: Lübecker Symposion gegen Einsamkeit

„Einsamkeit ist tödlich“ (Victor Staudt, Überlebender eines Suizidversuches)
Am 12. November 2016  10 – 17 Uhr hat die TelefonSeelsorge Lübeck und ihr Förderverein zu einem „Lübecker Symposion gegen Einsamkeit“ eingeladen. Referenten aus den unterschiedlichsten Fachgebieten – unter anderem Professor Dr.theol.  Fulbert Steffensky, der sich extra von Luzern nach Lübeck auf den Weg gemacht hat – haben Impulsvorträge  gehalten, um anschließend mit dem Publikum in einen regen Austausch zu kommen. Ziel war, den offenen Umgang mit der Einsamkeit und ihre Überwindung als dringliches Anliegen unserer Gesellschaft in den Mittelpunkt zu stellen. Die Veranstaltung richtete sich an Fachleute aus den psychosozialen Einrichtungen und fachlich interessierte Menschen. Circa 200 Menschen haben an dem Symposion teilgenommen.

Seit ein paar Jahren wird an unseren Telefonen Einsamkeit zusehends mehr thematisiert: waren es vor 10 Jahren noch an die 7 %, so wird sie mittlerweile in rund 15 %  aller  25.000 Gespräche in Lübeck  direkt beklagt, also in jedem 4ten Gespräch.  Und es gibt viele Anrufende, die wissen gar nicht, dass das, worunter sie leiden, Einsamkeit ist. Sie klagen über innere Leere, oder eine vage Unzufriedenheit, die an ihnen nagt;  sie fühlen sich getrieben von nicht zu stillender Unruhe, als würde in ihrem Leben irgendetwas fehlen.
Drei eindrückliche Beispiele:
*Ich bin auf der Suche nach meinem Leben“ antwortet ein älterer Anrufer auf die Frage, was ihm seine von ihm selbst zeitlich sehr kurz bemessenen Anrufe bei uns denn brächten. Vor 2 ½ Jahren sei seine Frau gestorben, seitdem seien Familienserien im Fernsehen seine tägliche Hilfe gewesen. Aber er fühle sich so leer, daran gehe er jetzt kaputt.
* Eine Anrufende trauert um den langjährigen Partner, der sich von ihr getrennt hat. Sie hat eine Menge Bekannte, mit denen sie sich per facebook und whatsapp austauscht „aber ich habe niemanden der die Trauer mit mir aushält“, sagt sie. Sie fühlt sich unruhig, aufgewühlt und gelähmt zugleich, hat nachts schlimme Alpträume, fühlt sich einsam in der Wohnung, in der alles an den Partner erinnert.*Ein Junge, 15 Jahre alt, schildert, wie er in der Schule gemobbt wird. Bei den Mädchen sei er der Looser, mit seinen Eltern redet er schon lange nicht mehr richtig. Einsam fühlt er sich, solange er denken kann. Er kann sich nicht vorstellen, sein wahres Gesicht zu zeigen. Er hat Sorge, es dann ganz und gar zu verlieren.

Einsamkeit – so geben unsere Statistiken Auskunft – kann jeden treffen, gleich welchen Alters, ob in Partnerschaft lebend, ob reich oder Harz4-Empfänger, ob mit oder ohne Arbeit.
Männer beklagen sie häufiger als Frauen, Alleinlebende weitaus mehr als Menschen, die mit anderen zusammenleben.  Je älter die Menschen werden, desto mehr sind sie betroffen- ab 60 Jahren rutschen die Zahlen hoch, ab 80 sind es ganze 40,5 %, die Einsamkeit und den Mangel an sozialen Beziehungen zum Thema machen.
In unseren Supervisionen und auf internen Studientagen stellten wir fest: Einsamkeit kennen wir auch auf unserer Seite des Telefons.  Wir begegnen eigenen Einsamkeiten in den Gesprächen mit Anrufenden: Einsamkeit, die schmerzlich in Erinnerung ist; akuter Einsamkeit, Teil-Einsamkeit, die einen nur in bestimmten Situationen immer wieder packt.
Einsamkeit: sie zählt zu einem der größten und stärksten Gefühle, die unser Leben bestimmen. Sie tut weh wie ein Schlag. Wenn wir abgewiesen werden, wird die gleiche Region der Großhirnrinde aktiv wie bei einer körperlichen Verletzung. Der Organismus will also, das wir das Gefühl der Verlorenheit ernst nehmen.-  Einsamkeit ist oft unliebsame Begleiterin verschiedenster Lebens- und Entwicklungsphasen. Sie kann etwas positives sein und gibt in mancher Gestalt Kraft und erschließt neue Erkenntnisse. In anderer Form jedoch lähmt sie und entzieht einem jegliche Kraft. Dann kann sie Bluthochdruck, Herzerkrankungen und Schlafstörungen begünstigen, Nährboden sein für alle möglichen psychischen Erkrankungen, hauptsächlich Depressionen. Dann kann sie auch tödlich sein: wenn aus der Depression heraus ein Selbsttötungsversuch erwächst. Einsamkeit zählt zu den unantastbaren und gefürchtetsten Phänomenen unserer Gesellschaft. Sie ist von einer Tabuzone umgeben. Sie passt nicht in das gängige Bild der sozialfähigen und sozialkompetenten Person.
Die Anonymität unseres telefonischen Seelsorgeangebots macht es leichter, in das Tabu einzudringen. Das  Telefon hält die direkte Nähe, die verletzbar macht, fern. So ist es manchmal möglich, gemeinsam über Wege hinaus aus der Einsamkeit nachzudenken. Manchmal gelingt es auch nur, Menschen für eine Zeit ihre Einsamkeit vergessen zu lassen, wenn die Wiederangliederungsmotivation an andere Menschen fehlt und man im Gespräch die beginnende Depression spürt. Beratung und Therapie wird als Möglichkeit empfohlen.
Doch was ist mit Einsamkeit in der Öffentlichkeit unserer Gesellschaft? haben wir uns gefragt. Einsamkeit ist tückisch- sie lässt sich im Ausdruck des Gefühls und im Gesicht gut verbergen, was es andererseits aber auch schwer macht für einen Betroffenen, sich mit ihr authentisch zu outen. Doch bedeutet die vordergründig scheinbare Abwesenheit der Einsamkeit ja nicht, dass sie nicht existiert. Die Dunkelziffer all jener Menschen, die ihr Dasein in tiefer und schmerzvoller Einsamkeit fristen, lässt sich  nur erahnen.
Um darauf aufmerksam zu machen, haben wir dieses Symposion ins Leben gerufen. Einsamkeit ist ein gesellschaftliches Thema. Wir wollten mit Personen, die im Direktkontakt mit Hilfesuchenden und Kranken stehen, gemeinsam darüber nachdenken: Ist Einsamkeit bei euch ein Thema? Woran ist sie zu erkennen? Was führt bei wem zu Einsamkeit? Wie kann man ihr beikommen?  Was können wir gemeinsam tun? Nimmt Einsamkeit zu oder haben nur mehr Menschen Mut, sich via Internet oder in anonymer Beratung und Seelsorge zu diesem schmerzhaften Gefühl zu bekennen?
Dabei beschränken wir uns mit unserem Blick auf Einsamkeit bewusst nur auf den deutschen Kontext. Schon s o ist unser Bemühen um Systematik gründlich gescheitert: Das Thema Einsamkeit ist so komplex, dass es unmöglich an einem Tag zu umfassen ist. So haben wir Lebensbefindlichkeiten ausgewählt, die nun kaleidoskopsartig aneinandergereiht sind und doch innerlich zusammenhängen. Und da Einsamkeit nirgends offensichtlich ist, haben wir Referenten aus sehr unterschiedlichen Bereichen eingeladen, in denen Menschen einsam sein kö n n t e n.
Unsere These: Einsamkeit ist nicht nur eine subjektive Befindlichkeit. Keinesfalls  nur Thema für Seelsorge, Beratung oder Therapie.  Sie hat auch eine soziale Dimension.
Unser erster Referent, der den Hauptvortrag gehalten hat, war Prof. Dr. theol. Fulbert Steffensky. Theologische Betrachtungen des Themas standen uns außer Frage, ist die TS doch schließlich eine kirchliche Einrichtung. Bei ihm habe ich als Theologiestudentin gelernt, dass die Kirche sich nicht selber gehört, sondern den Leiden und den großen Fragen des Gemeinwesens. Was er über die Einsamkeit im Alter zu berichten weiß? Einsam macht es, schmunzelt er, wenn die Angehörigen beginnen, über einen zu reden statt mit einem. Wenn es eine zweite Lesart gibt hinter der ersten offiziellen. Er könne Einsamkeitsgefühle am Schreibtisch genießen, wenn er seine Frau in der Wohnung herumwerkeln höre. Doch wenn die Wohnung leer sei, könne alles, was vorher Freude gemacht hat, sinn- und bedeutungslos werden. Man müsse sich hüten vor Strategien der Selbstentmutigung. Was gegen Einsamkeit helfe? Wir können nicht sein, ohne in Güte angeschaut zu werden. Bedürftigkeit nach dem anderen, angewiesen zu sein und das auch laut zu sagen  sei eine Schönheit des Menschen. Des Weiteren sei arbeiten können eine gute Sache: er genieße es sehr, immer wieder zu Vorträgen eingeladen zu werden und zu schreiben. Gebraucht zu werden: er liebe es, zuweilen seine Enkel zu hüten und um Rat gefragt zu werden. Sich ein soziales Umfeld zu gestalten- auch wenn es bislang nicht zum Lebenskonzept gehörte: sich aufzumachen, um in Interessensgruppen Menschen zu treffen. Und sich eine Struktur im Alltag zu bewahren und nicht in eine „Ist doch alles egal“-Haltung zu verfallen, gebe großen Halt.   
Worin sich alle Referenten einig waren:
Die Gesellschaft ist geprägt von Werten wie Unabhängigkeit, Leistungsfähigkeit, körperlicher Unversehrtheit bis hin zum perfekten Körper und „cool“ drauf sein, auch wenn es mir schlecht geht. Wer diesem Ideal nicht standhält durch Alterungsprozesse, körperlichen Abbau, durch Suchterkrankung oder überhaupt zu erkranken und dadurch immobil zu werden, durch Verarmen aufgrund von Arbeitslosigkeit und den Folgeproblemen, wird aus der Bahn geworfen. Hat weniger Möglichkeiten, an der Gesellschaft teilzunehmen. Und der Mensch beginne sich zu verändern. Er wird misstrauisch anderen Menschen gegenüber, verlernt den „small talk“, wird unbeholfen im Kontakt, positive Zuwendung wird nicht mehr wahrgenommen.  Und das mache dann noch einsamer. Einsamkeit sei ein sich selbst verstärkender Prozess. Betroffen machten die Erfahrungen des Krankenhauspfarrers, der erzählte, dass die Angewiesenheit eines schwerkranken Menschen die wenigsten miterleben und aushalten wollen.
Was hilft? Mut und Kraft und manchmal ein Impuls von außen. Selber den ersten Schritt machen. Raus aus der eigenen Welt, aus der „Mond-“ in die „Sonnenposition“ kommen: das sei der schwerste Schritt. Wünsche äußern- einen offenen Umgang mit der eigenen Einsamkeit pflegen, aufkommende Gefühle von Einsamkeit unbedingt ansprechen, Achtsamkeit üben auch den  kleinen Zuwendungen gegenüber, sich nötigenfalls professionelle Unterstützung holen.  Für diejenigen, die einsame Menschen wahrnehmen: Einsamkeit ansprechen. Ernsthaft Zeit haben. Wirklich emotional berühren. Nachfragen. Ein wirklich offenes Ohr haben. Und für alte Menschen wurde immer wieder der Ruf laut nach barrierefreiem Wohnen und einem besseren Quartiersmanagement. Mit der Aufforderung, einen Moment lang ein berührendes eigenes Erlebnis in sich wachzurufen und das Lächeln, das einem dieses aufs Gesicht zaubere, dem Nachbarn links und rechts zu schenken (was zur allgemeinen Erheiterung beitrug) und einem Segen wurden die Teilnehmenden verabschiedet.

Marion Böhrk-Martin

„Sehr geehrte Damen und Herren, ich war im November in Lübeck auf dem Symposium gegen Einsamkeit und möchte Folgendes dazu sagen: Sie besetzen mit der Veranstaltung in meinen Augen eines der wichtigsten Themen unserer Zeit. Es ist darüber hinaus eines der letzten großen Tabu-Themen und man kann Ihr Engagement deshalb gar nicht hoch genug loben. Ich habe es noch nie erlebt, dass ein solches Thema durch verschiedene Referenten so vielfältig und profund ausgeleuchtet wurde. Ihnen ist eine qualitativ sehr hochwertige Veranstaltung gelungen, die für die Organisatoren spricht und sich wiederholen sollte.“ S.Worm